In der Weender Landstraße in Göttingen herrscht noch immer große Unsicherheit. Niemand weiß, wie die Zukunft der Wägetechnik aussieht. Die KollegInnen, die sich mit dem Bau von Industriewaagen beschäftigen, wissen nur, dass sie verkauft werden sollen. Manch einer zweifelt am Sinn des Konzernumbaus, aber der „Markt“ hat längst entschieden: Sartorius- Aktien sind jetzt eine Zockerwährung.
Wer in der ersten Woche dieses Jahres noch tausend Euro z.B. vom Weihnachtsgeld über hatte und die in Sartorius- Aktien gesteckt hat, der bekam dafür etwa 30 Aktien und immerhin 24,60 Euro Dividende. Nun sind 2,4% Zinsen nicht unbedingt so aufregend wie die zweistelligen Gewinnerwartungen, mit den agile Manager gerne ihre Investoren locken, aber es ist auch mehr als es zur Zeit auf ein Sparbuch gibt. Unser Weihnachtsmann (wir nennen diese aktienbesitzende Person jetzt mal so, aber es könnte natürlich auch eine Frau sein) hätte zwar nicht viel mehr als den Inflationsausgleich für seine Anlage erhalten, aber er hätte das Geld auch nicht verloren. Ganz risikolos ist seine Anlage ja nicht gewesen, denn weniger als drei Jahre vorher wäre sein 'Aktienpaket' bloß 200 Euro wert gewesen. Der Kurs hatte sich also in knapp drei Jahren mehr als verfünffacht. Wenn die Kurse einer Aktie aber so stark gestiegen sind, dann hat man gute Chancen, gerade besonders teuer zu kaufen. Aber unser Weihnachtsmann (und seine Frau) haben Glück: die Sartorius-Aktie ist Liebling der Börsenhändler. Seit Jahresanfang kennt der Kurs nur eine Richtung: nach oben. In den Internetforen der Börsenzocker berichtet man sich gegenseitig, was in den Pressemitteilungen des Konzerns alles Tolles geschrieben steht und leitet daraus immer neue Gewinnerwartungen ab. Der Kurs hat inzwischen die 65-Euro-Marke gekratzt und unsere Weihnachtsfamilie hat nach knapp einem Jahr ein Aktienpaket, das ca. 1.900 Euro wert ist – plus 24,60 Euro Dividende.
Man sieht an diesem Beispiel, wie bedeutungslos die reale Gewinnerwartung bei machen Aktienkursen ist – hauptsache der Anleger (Zocker) hat die Erwartung, dass es noch andere Zocker gibt, die in ein paar Monaten noch mehr Geld für seine Aktien zahlen. Das ist der Stoff, aus dem Börsenträume sind – und Aktienblasen. Für diejenigen, die jetzt die Aktie kaufen, sieht es weniger rosig aus: sie müssen sich bei der nächsten Dividendenausschüttung mit unter 1,5% Zinsen auf ihren Kaufpreis zufrieden geben. Inzwischen gibt es auch mahnende Stimmen: Mitte Oktober hat ein erster Börsenanalyst auf einer der zahlreichen Börsenseiten im Internet die Sartoriusaktie heruntergestuft; seine Empfehlung ist nicht mehr „Kaufen“ sondern „Behalten“, die Aktie sei jetzt „fair“ bewertet.
Ob die KollegInnen das alles fair finden, für die Sartorius nicht eine virtuelle Größe in ihrem Aktiendepot darstellt, sondern ein ganz realer Arbeitsplatz ist, ist eine ganz andere Frage. Sartorius hat den weltweiten Umsatz im ersten Halbjahr um 19% gegenüber dem Vorjahr gesteigert. Daher gab es zahlreiche Einstellungen und es wurden auch eine ganze Reihe Leiharbeiter eingestellt. Bleibt die Frage, ob diese Leiharbeiter jetzt vom guten Kurs und dem Branchenzuschlag der IG Metall profitieren oder ob Sartorius sich an den Tricks zur Tarifumgehung beteiligt, die in der Leiharbeitsbranche zur Zeit die Runde machen.
Und fair finden das auch die 70 KollegInnen nicht, die zur Sparte Industriewaagen gehören und über denen das Damoklesschwert des Verkaufs hängt. Nun muss ein Besitzerwechsel nicht unbedingt eine Katastrophe sein. Die KollegInnen der ehemaligen Gleitlager- Sparte, die vor Jahren an den britischen Konzern John Crane verkauft wurden, sind zwar nicht unbedingt glücklicher als früher, aber die ganz großen Katastrophen sind auch ausgeblieben. Trotzdem bleibt die Unsicherheit, wie es in Zukunft weitergeht und die bange Frage, was passiert, wenn die Kaufinteressenten nur die Konzerntöchter in Aachen und Hamburg kaufen wollen und an der Industrieabteilung in Göttingen gar kein Interesse haben. So bleibt angesichts der Jubelmeldungen, die zuletzt zum Beispiel Mitte September im „Blick“ erschienen sind, vor allem ein Fazit: Es gibt Grund zum Jubeln über Sartorius, das aber vor allem an den Börsenplätzen in Frankfurt und sonstwo in der Welt.